Tiramisù in a-Moll
Gemeinsam gähnen, gemeinsam singen, Klangräume spüren. Und wandern zu alten Kirchen. Ein Musikferienkurs in der Toskana
Von Erich Kasberger – in “DIE ZEIT” Nr. 23 – 2002
Ihre Stimmen klingen im Verborgenen. Sie beherrschen die gängigen Melodien der Opernliteratur, singen lustvoll in allen Tonarten und lieben die Akustik gekachelter Wände – die Badewannentenöre, eine Art Kammersänger im Feuchtraumbiotop.Zugegeben, auch ich bin Badewannentenor aus Leidenschaft. Aber ich singe auch gerne mit anderen. Darum hat mich die »Vokalexpedition zu toskanischen Sakralbauten« neugierig gemacht. So heißt ein Musikferienkurs im Castello di Monte Antico, einer kleinen Burganlage zwischen Siena und Grosseto. Er verbindet gemeinsames Singen und Wandern.
Frisch geduscht, aber uneingesungen – auch aus keinem anderen Bad drangen Morgenarien -, stehe ich Punkt neun Uhr in einer Gruppe von acht Sängerinnen und Sängern im Halbkreis um Ute von Genat, Lehrerin für klassischen Gesang und Konzertsängerin. Sie trägt Goldrandbrille, wirkt entspannt und dabei doch so konzentriert, als stünde sie kurz vor einer Aufführung. Aber wir müssen erst mal vorsingen. Das merkt man uns auch an. Leises nervöses Räuspern rundum, als hätten alle plötzlich denselben Anflug von Erkältung. Keiner weiß so recht, auf welchem Bein er eigentlich stehen soll. Das stimmvolle Lachen unserer Lehrerin beruhigt uns.
Aber noch singen wir nicht. Erst einmal machen wir Yogaübungen, um die Lungenräume zu weiten. Es atmet, pumpt und ächzt zwischen Rippenbögen und Wirbelsäule, bis wir uns fühlen wie Maikäfer kurz vor dem Abflug. Dann halten wir uns große Stimmgabeln an verschiedene Stellen des Kopfes, klopfen mit den Knöcheln der Faust auf den Schädel und entlocken ihm die dumpfen Klänge einer Buschtrommel. Dann summen wir, bis alles im Kopf in Schwingung gerät, vom Nasenraum zu den Zähnen, bis hinter beide Ohren. Die Vokalexpedition führt ganz unerwartet zunächst in unser Inneres.
Schließlich die ersten Töne. Sie sollen in die »Maske« fließen, in die neu erspürten Klangräume rund um die Nase. Und tatsächlich, die Töne klingen schon anders als gewohnt, sehr viel sonorer, wie nach einer leichten Erkältung, zugleich wohliger, auch bauchiger. Der Hals und die Stimmbänder scheinen beim Singen gar nicht mehr beteiligt.
Allmählich bekommen wir eine Ahnung davon, was Stimmbeherrschung bedeutet: Unsere Töne gebärden sich zwar noch wie kleine Klanggeister, die einmal zu weit in die Nase rutschen, dann wieder in den Rachen gleiten und schließlich in irgendwelchen Hohlräumen herumspuken. Das Lachen darüber aber hat Methode, denn es kommt aus dem Zwerchfell, der Stütze des Sängers. Und kollektives Gähnen ist Teil der Entspannungsübungen. Die gelungenen Töne möchte man am liebsten einpacken und mit nach Hause nehmen. Jetzt erst stellen wir uns offiziell vor, musikalisch natürlich. Jeder nennt sein Lieblingsgericht aus der italienischen Küche, Ute von Genat erfindet am Klavier eine kleine Melodie, und der Interpret gibt den Tönen mit melodramatischer Geste eine Gestalt. Neben mir schmachtet Iris, Sopran, mit engelsgleicher Miene, ein Ti-i-ramisu-uuu, Thomas, Bariton, entdeckt den Stier in sich und nimmt penne arrabiata auf die Hörner, und die Altistin Sabine serviert uns wohl klingende orata al cartoccio – wir haben vorgesungen.
Psalmodie der Mönche
Im Übungsraum, eingerichtet wie ein Wohnzimmer, sitzt noch die Aprilkälte. So genießen wir auf unserer ersten Wanderung die wärmende Nachmittagssonne, die den immer weiter ausschwingenden Hügeln der toskanischen Landschaft einen Frühlingsmantel umgehängt hat. Während des Wanderns wird Gott sei Dank nicht gesungen, obwohl Jörg, Kunsthistoriker und staatlich geprüfter Wanderführer, eine schöne Bassbaritonstimme hat. In der Toskana braucht man einen Begleiter wie Jörg: Die Wege sind nicht markiert, die Karten schlecht und die Toskaner keine guten Ratgeber, weil sie es nicht so mit dem Wandern haben. Wie sensibel wir für das richtige Atmen geworden sind, merken wir erst beim Gehen so recht: Es ist, als schmeckte man die ganze erdige Landschaft.
Unser erster Zielpunkt: Santa Maria della Carita in Seggiano, eine Renaissance-Kirchemit manieristischen Elementen in der Architektur, wie Jörg uns vor der Kirche erzählt. Aber Ute schickt uns auf eine Reise mit den Ohren. Wir bekommen die Augen verbunden und tasten uns in die Kirche vor – vom Betstuhl zur nächsten Säule, von der Säule zur Kanzel. Dabei singt jeder lang gezogene Töne. Es fühlt sich an, als ob die neu entdeckten imaginären Resonanzräume hinter Ohren und Kopf ins Unendliche wüchsen. Danach trauen wir uns zu, das Lied El Grillo des Renaissance-Komponisten Josquin Desprez der Akustik des Kirchenschiffs anzuvertrauen. »Unglaublich«, flüstert Fabian, »unter der Apsis geht mir der Kanon bis in die Fußspitzen.«
In der Abteikirche San Galgano ersingen wir uns am folgenden Tag die Erkenntnis, wie sehr sich Kirchenräume nicht nur in architektonischer Hinsicht, sondern auch in ihrer Wirkung auf den Stimmklang unterscheiden. Hier breiten sich die Töne zwischen himmelwärts ragenden Wänden der Zisterzienser-Gotik aus, brauchen eine Weile, bis sie ihr Klangvolumen erreichen, und kehren umso voller ans Ohr zurück. Und das, obwohl wir gänzlich unter freiem Himmel stehen. Vor 500 Jahren hatte ein Abt aus Geldnot das Dach verhökert. Uns interessiert aber weniger dieses Kuriosum, sondern die neue Klangerfahrung. »Acht Stimmen reichen, diesen Raum zu füllen. Mit keiner Aufnahmetechnik dieser Welt könnte eine solche Akustik erzielt werden«, sagt Thomas.
Die mittelalterlichen Baumeister haben es fertig gebracht, große Kirchenräume mit erstaunlicher Klangwirkung zu erschaffen. Die Abtei Sant’Antimo in Colle, ein überwältigend schöner romanischer Hallenbau, ist bestes Beispiel dafür. Neun Mönche aus der Ordensgemeinschaft der Regulären Kanoniker leben hier und singen in ihren Stundengebeten Psalmen der Gregorianik. Wir nützen die kurze Zeit vor dem Mittagsgebet, Mozarts kleinen dreistimmigen Alleluja-Kanon anzustimmen. Wir probieren ihn einmal, zweimal, dreimal, aber immer sind wir am Ende um einen Viertelton höher als zu Beginn. Vielleicht resultiert alles aus dem Übereifer oder schlicht dem Übermut, die Kirche ohne genaues stimmliches Ausloten beherrschen zu wollen.
Es ist Zeit für das Stundengebet der Mönche. Die extrem schlichte, scheinbar einförmige Psalmodie des Mönchsgesangs kennt nur die Einstimmigkeit, in der alles verschmilzt. Wir sitzen und hören zu – in aller Stille.